Kolumne

Umdenken für die Zukunft

Eine ganze Nacht lang darüber nachdenken, was die jüdische Lehre für uns, unseren Alltag und unsere Zukunft bedeutet: das erlebte unsere Gemeinde Or Chadasch kürzlich wieder am Vorabend des Festes Schawu’ot.

Eine ganze Nacht lang darüber nachdenken, was die jüdische Lehre für uns, unseren Alltag und unsere Zukunft bedeutet: das erlebte unsere Gemeinde Or Chadasch kürzlich wieder am Vorabend des Festes Schawu’ot. An diesem Fest feiern wir das Empfangen der Tora. In unserer Tradition bekommt Moses auf dem Berg Sinai nicht nur die 10 Worte (in der christlichen Tradition wird es Gebote genannt), sondern die ganze Tora. Weil aber für uns die Verbindung der schriftlichen Lehre in der Tora und der mündlichen Überlieferung im Talmud wichtig ist, und weil die mündliche Lehre sich laufend durch Reflektionen und Studium weiter entwickelt, hat sich der Brauch einer Studiennacht am Vorabend des Festes Schawu’ot herausgebildet. Sie wurde im 16. Jahrhundert von den Kabbalisten, den Anhängern der jüdischen Mystik, eingeführt. Oft dauerte das Studieren bis zum Morgengrauen, der Zeit des Morgengebets. Heute wird in vielen jüdischen Gemeinden weiterhin eine Studiennacht gehalten, die jedoch nicht mehr zwingend dem Muster der Kabbalisten folgt.

Dieses Jahr wählte unsere Gemeinde Or Chadasch für diese Studiennacht das Thema «Umdenken». Gut 60 Personen, alt und jung, fanden sich dazu in unserem Gemeindezentrum ein. Sechs Lektionen, ein Abendgebet und kulinarische Herrlichkeiten dauerten bis nach zwei Uhr morgens. Die Lektionen thematisierten das Umdenken in verschiedenen Facetten unseres Lebens. Zu Beginn des Drei-Gänge-Menüs hörten wir von der Köchin Frau Rabbiner Wyler, dass alle Zutaten aus der Schweiz kommen. Ein Umdenken zugunsten des Klimas. Musikalisch gab es einen Streifzug durch liturgische Melodien aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die uns zum Teil noch heute im Gottesdienst begleiten. Wir hörten aber auch neue, moderne musikalische Kompositionen. Altes macht Platz für Neues. Schwerere Kost gab es mit einer Lektion zur Frage, was der Begriff «Zionismus» heute für uns bedeutet. Sein Ursprung am Ende des 19. Jahrhunders war ein Umdenken für die jüdische Gemeinschaft der damaligen Zeit. Welche Bedeutung der Zionismus heute hat, führte, sicher auch angesichts des Krieges in Gaza, zu einer spannenden Diskussion.

Schawu’ot wird 50 Tage nach Pessach gefeiert, so wie die Christen 50 Tage nach Ostern Pfingsten feiern. An Pessach gedenken wir des Auszugs aus Ägypten. Schawu’ot heisst übersetzt «Wochenfest», weil es sieben Wochen nach Pessach gefeiert wird. Eigentlich ist es ein Erntefest, da im landwirtschaftlichen Zyklus um diese Zeit jeweils geerntet wurde. Da es später aber keinen Tempel, keine Opferungen und Opfergaben mehr gab, wo man Teile der Ernte hätte Gott darbringen können, fügten die talmudischen Rabbiner ein «historisches» Ereignis hinzu, nämlich die Offenbarung auf dem Berg Sinai, die Übergabe der beiden Steintafeln an Moses.

Schawu’ot und die vorhergehende Studiennacht lassen uns die Tora – die jüdische Tradition – jedes Jahr aufs Neue empfangen, sie lernen und mit der aktuellen Lebenssituation verbinden.

Zur Person
Zur Person

Ruven Bar Ephraïm ist Rabbiner der Jüdischen Liberalen Gemeinde Or Chadasch in Zürich, Vorstandsmitglied der European Rabbinical Assembly ERA (Verband liberaler, progressiver und Reformrabbiner in Europa) und im Vorstand des Forum der Religionen in Zürich. Er ist verheiratet, hat fünf Kinder und zwölf Enkelkinder.