Kolumne

Weltumfassendes Mandala

Dass Gott nicht ein Mann ist, davon ist heute auch die westliche Welt überzeugt.

Man spricht aber nicht von einer Göttin, sondern ist zum Kompromiss gelangt, einfach vom göttlichen Weiblichen zu reden. Im Hinduismus hingegen ist die göttliche Devi keine Nebendarstellerin neben einem eigentlich männlichen Wesen. Das Sanskrit-Wort Devi ist sprachlich verwandt mit dem lateinischen «Dea», was «Göttin» bedeutet. In der Hindu-Philosophie spricht man von vielen Devas oder Gottheiten als Aspekten des Göttlichen, interessanterweise wird Devi aber immer nur als die eine verstanden – so wie es verschiedene Erscheinungsformen der einen Maria gibt, beispielsweise als Schwarze Madonna. Viele Phasen des heiligen Hindu-Jahres richten sich nach Devi.

Für einen westlichen Verstand ist es kaum nachvollziehbar, dass Devi aber nicht nur als weiblich oder als männlich verstanden wird. Im Rig-Veda-Vers 1.89.10 beschreibt der Seher Gotama um etwa 1900 v. Chr. seine Erfahrung der Unermesslichen: «Die Unermessliche ist die Mutter, sie ist der Vater, sie ist das Kind. Die Unermessliche ist alle Gottheiten.»

Im Verlauf der Jahrtausende haben die Hindu-Weisen tiefgründige Repräsentationen von Devi entwickelt. Eine dieser ist das Sriyantra: ein in Hindu-Haushalten und Tempeln sehr beliebtes Mandala. Es stellt die Manifestation des göttlichen Weiblichen dar. Die gesamte Schöpfung wird als Mandala verstanden, dessen zentraler Punkt Devi ist.

Der Punkt repräsentiert die ursprüngliche Einheit von allem in ihr. Von ihr geht alles aus. Das erste Dreieck zeigt, wie die Ur-Einheit zur Dreieinheit wird: das erfahrende Subjekt, das erfahrene Objekt und das Bewusstwerden. Die Schriften beschreiben diese Dreieinheit auch so: die Liebende, der Geliebte und ihre Verbindung: die Liebe. Aus der Dreieinheit entstehen unzählige solche Dreieinheiten: Sie versinnbildlichen die Vielheit und gegenseitige Abhängigkeit aller Wesen in der Schöpfung.

Diese Vielheit wird in ihrer tiefsten Tiefe immer von der Einheit Devis im Zentrum getragen. Nach innen gerichtet, repräsentiert ihr Mandala auch den Mikrokosmos unserer Individualität und Persönlichkeit: Jeder Mensch ist in sich wie ein Mandala. Unsere vielfältigen Persönlichkeiten, Emotionen und Gedanken sind wie verschiedene Teile des Sriyantras. Das Zentrum ist unser wahres Selbst. Gleichzeitig sind wir – als kleine Mandalas sozusagen – im grossen Mandala von Devi enthalten.

Was nützt uns das? Im innersten Sinn repräsentiert das Sriyantra die Qualitäten Devis, die uns durch Kontemplation und Gebet verfügbar werden. Diese Eigenschaften werden durch 16 und dann 8 Lotosblütenblätter in den äusseren Kreisen dargestellt: Mitgefühl, Stärke, Kreativität, Liebe, Heilung, Sicherheit … Sie alle sind im Sriyantra enthalten und werden wie eine Lotosblume zum Blühen gebracht, indem man über sie kontempliert.

Ähnlich wie Augustinus‘ «Stadt Gottes» wird das Sriyantra auch als Srinagara, als «Stadt Devis», verstanden. Wie harmonischer wäre die Welt vielleicht, wenn Menschen sich als Mitbewohner dieser weltumfassenden Residenz, dieses allumfassenden Mandalas, verstehen würden – und vielleicht nicht immer nur mit einem Mann, sondern mal mit Devi im Zentrum.

Bild: Sriyantra – die Repräsentation des göttlichen Weiblichen.

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Acharya Vidyabhaskar lebt in Winterthur, ist Sanskrit-Gelehrter aus der nichtdualen Tradition Indiens und studierte Vergleichende Religionswissenschaft und Theologie. Er schlägt damit eine Brücke zwischen Ost und West und wirkt auch bei Bildungsprojekten in Indien und Nepal mit.