Kolumne

Tanz des Göttlichen

Aus der nichtdualen Hindu-Tradition Indiens: In der Welt der altindischen Ästhetik tanzen Philosophie und Kunst zusammen im Einklang der Rasas.

Der Sanskrit-Begriff Rasa bedeutet «Essenz», «Saft» und «Geschmack». Rasa meint mehr als das blosse Gefühl. Es bezeichnet die menschlichen Emotionen, wenn sie zum Erhabenen er-hoben sind, oder den die Seele berührenden Nektar der Erfahrung. Als -ästhetisches Prinzip ist Rasa zugleich ein Tor zum Verständnis der Zusammenhänge zwischen Kunst, Spiritualität und Bewusstsein.

Rasa beginnt mit der Destillation menschlicher Emotionen in universelle Erfahrungen. Der Weise Bharata beschreibt neun primäre Rasas, die zum Göttlichen erhoben werden können: Liebe, Frohsinn, Mitgefühl, Zorn, Mut, Angst, Ekel, Staunen und Frieden. Jeder Rasa fungiert als Linse, durch die wir das Drama des Lebens wahrnehmen und daran teilnehmen. Indem der Rasa bewusst erfahren wird, werden alltägliche Emotionen in etwas Transzendentes verwandelt.

Rasa kann performativ zustande kommen: Eine klassische indische Tänzerin, deren Mimik einen Wandteppich aus Verspieltheit und Liebe webt; eine epische Rezitation, bei der die Zuhörenden mit Mut aufgeladen werden. Das Publikum schaut nicht nur zu – es fühlt mit. Der Künstler wird zum Vermittler einer Erfahrung, die so tiefgreifend ist, dass sie die spirituelle Verbindung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen spürbar werden lässt.

Indische Tempel sind physische Manifestationen von Rasa. Sie laden Betrachterinnen in einen Raum ein, in dem die ästhetische Erfahrung zur Anbetung wird. An den Wänden der Chola-Tempel im südindischen Tamil Nadu verkörpert Nataraja Shiva als kosmischen Tänzer, als den Rhythmus von Schöpfung und Zerstörung. Sein Tanz der Glückseligkeit führt letztlich zum śānta-rasa, dem Rasa des Friedens. Er fordert uns Menschen auf, inmitten des Chaos des Lebens der Stille zu lauschen.

Was Rasa revolutionär macht, ist die Erkenntnis, dass Gefühle, die oft als Ablenkungen abgetan werden, Wege zum Göttlichen sind. In der spirituellen Hindu-Tradition ist es keine Schwäche, tief zu fühlen, sondern eine heilige Chance.

Hindus vergleichen ihre Beziehung zu Gott oft mit der eines besten Freundes, Kindes oder Elternteils. In der heutigen Welt, in der sich Emotionen oft fragmentiert und Spiritualität abgeschottet anfühlen, bietet die Welt der Rasas eine Chance zur Integration. Indem man sich ganz auf das Spektrum der Emotionen einlässt – sei es in der Kunst, in Beziehungen, in der persönlichen Reflexion oder in der Verbindung mit Gott. «Spüre den Rasa in Momenten, in denen der Rasa fliesst» – das ist keine abstrakte Idee, sondern das Leben selbst.

«Raso vai saḥ», «er (der Höchste) ist wahrlich der Rasa», sagt Vers 2.7.1 der Taittirīya-Upaniṣad des Yajurveda um 1000 v. Chr. Rasa ist eine Einladung, den Höchsten in unserem Herzen zu schmecken. Jede Emotion trägt einen Funken des Unendlichen in sich, eine Chance, mit dem Göttlichen zu tanzen. Rasa heisst auch, dass Kunst keine Ablenkung vom Leben ist, sondern ein Weg, es vollständig zu leben, mit Schönheit, Leidenschaft und Anmut.

In jedem Gemälde, jedem Tanz, jedem Tempel und jeder Träne erinnert der Rasa an die ewige Wahrheit: Das Göttliche ist nicht weit weg. Es ist hier, in uns, und wartet darauf, gekostet zu werden. Und was ist das Leben, wenn nicht die exquisiteste Kunst von allen?

Zum Autor

Acharya Vidyabhaskar lebt in Winterthur, ist Sanskrit Gelehrter aus der nichtdualen Tradition Indiens und studierte. Vergleichende Religionswissenschaft und Theologie. Er schlägt damit eine Brücke zwischen Ost und West und wirkt auch bei Bildungsprojekten in Indien und Nepal mit.