Heute geht die Sonne in Zürich um 8.31 Uhr auf. Vom Zürcher Käferberg aus ist sie aber noch nicht zu sehen, der Nebel ist zu dicht. Alles, was weiter weg ist als zwanzig Meter, verliert seine Kontur, wird durchlässig. Dass die Sonne irgendwo sein muss, verrät die feuchte Luft. Die Luft leuchtet, hier zwischen den Gartenhäuschen der Familiengärten. Wie erwartet ist um diese Zeit niemand auf dem Areal. Das Wasser ist abgestellt, die Gartensaison zu Ende. Ruhe ist eingekehrt und ein bisschen Melancholie. Schon wieder ein Sommer vorüber.
Aber nicht alles schweigt. Nicht die Krähen, nicht die Meisen, nicht der Bach, der mitten durch die Gärten fliesst und mit dem Lärm des Berufsverkehrs um die Wette rauscht. Am lautesten aber sind die Farben. Pinke Hortensienblüten, die dem Verblassen bis jetzt Stand gehalten haben, rosa Rosen, orange Kürbisse, kerzenrote Beeren vom Christusdorn und dreckigrote Hundsrosen. Und hier noch die giftgrüne Halskrause eines vergessenen Salats.
Um 7.45 Uhr drücken die Umrisse der Stadt durch. Um 9.09 Uhr zeigt sich die Sonne zum ersten Mal als Scheibe. Eine Stunde später steht sie nun höher am Himmel und ab und an gibt das Gewölk sogar etwas milchigblauen Himmel frei. Da tauchen die ersten Gärtnerinnen und Gärtner auf.
Carola und ihr Mann räumen heute zum letzten Mal ihren Garten auf, denn sie ziehen aus der Stadt weg und verlieren somit das Recht auf einen Schrebergarten. Die Person, die zuoberst auf der Warteliste für eine der begehrten Parzellen steht, wird das freuen. Drei bis vier Jahre beträgt die Wartefrist. Seit der Corona-Pandemie ist die Nachfrage sprunghaft angestiegen.
Besonders stolz war Carola auf ihre Kiwibäume. Im ersten Jahr hat sie 800 Früchte geerntet. Wegen Frost ist der Ertrag in den letzten Jahren kleiner geworden. Ihr Garten ist mittendrin. Gefragt, was sie am meisten vermissen werde, nennt Carola die Gespräche von Beet zu Beet, die geteilten Geschichten, die sich an der frischen Luft leichter erzählen lassen. Neben den guten Erinnerungen nimmt Carola die eingemachte Tomatensauce mit in ihr neues Zuhause, wo sie einen eigenen kleinen Garten haben wird.
Das Areal Käferberg gehört zum Familiengartenverein Zürich Wipkingen. Walter Mathis, der die Geschichte des Vereins aufgeschrieben hat, berichtet darin von Familiengärten, die es schon im 17. Jahrhundert gab. Angelegt wurden sie, weil sich 1692 die Lebensmittelpreise verdoppelt hatten und die Versorgung der Stadtbewohnenden erschwert war. Rund 200 Jahre später richtete der Naturheilverein Zürich zwischen Tobelhof- und Krähbühlstrasse eine Gartenanlage ein nach der Idee von Dr. Moritz Schreber. Die Idee der Schrebergärten hatte – neben der Versorgung mit gesundem Gemüse – die Musse zum Ziel. Selbstversorgung wurde aber in den Kriegsjahren noch einmal zum Thema. Während des Zweiten Weltkriegs stieg die Parzellenzahl der Gärten von rund 7000 auf über 10 000 Parzellen an. Sportplätze, öffentliche Schul- und Spielwiesen wurden mit Gemüse und Kartoffeln bebaut.
Heute ist Selbstversorgung für die wenigsten Gärtnerinnen und Gärtner das Ziel. Heinz und seiner Frau sind die Blumenbeete gerade so lieb. Seit 2006, nach ihrer Pensionierung, bestellen sie gemeinsam ihren Garten. Heute ist Heinz da, um die Leitung seines Anschlusses zu entleeren, damit das Wasser darin nicht gefriert. Mit einem Maschengitter will er das Gemüse vor dem Schnee schützen. Bei Rutishausers zuhause herrscht Arbeitsteilung. Heinz rüstet das Gemüse, seine Frau kocht es. Wie es der Verein vorschlägt, besucht er den Garten regelmässig auch im Winter. Denn manchmal kommen ungebetene Gäste, die randalieren. Menschliche und tierische.
Davon kann Theo ein Liedchen singen. Er ist extra gekommen, um die Mäusefallen zu kontrollieren. Zwei Metallrohre mit einer federgespannten Vorrichtung stecken in der aufgelockerten Erde. In den vergangenen vier Tagen hat er damit sieben Mäuse gefangen – richtig grosse Exemplare. Im Kompost haben Theo und seine Frau einen Kürbis gepflanzt, der ist schön gewachsen, bis die Maus gekommen ist und alles weggefressen hat. Als sein Kollege Antonio im Frühling Salatsetzlinge gepflanzt hatte, standen sie gemeinsam vor dem Beet und konnten der Maus zuschauen, wie sie die Setzlinge nach unten in die Erde zog und auffrass.
Theo kennt die Mäuse aus seiner Kindheit. Es sind Feldmäuse, die machen ihm Probleme. Darum die Fallen. Wenn die Maus den Kopf in die Röhre steckt, löst sich die gespannte Feder und sie wird von einem herunterschnellenden Teil erdrosselt. Die toten Mäuse wirft Theo in den angrenzenden Wald. Heute aber sind die Fallen leer.
Um 11.33 Uhr taucht dann der Uetliberg aus dem Nebel auf. Der Wind peitscht die Schwaden vor sich her und löst sie auf. Endlich ist die Sonne da. Und wenn die Sonne scheint, dann ist Olga meistens im Garten. Die Griechin aus Ioannina hat ihren Garten seit 1998. Damals war es einfach, einen zu bekommen. Seit vier Jahren ist Olga pensioniert. Eigentlich gehört der Garten ihrer Tochter, aber die hat wenig Zeit. Darum kümmert sich Olga weiter. Die Blumen sind ihr besonders wichtig. Gerade hat sie die «Stephanie» in Folie gepackt, die ein bisschen aussieht und riecht wie ein Jasmin. Die Nachbarn haben in den vergangenen 26 Jahren nur zweimal gewechselt. Neben ihr hat es Italienerinnen, Spanier und Deutsche. Sie hat es gut mit ihren Nachbarinnen. Olga hätte uns ihren Garten gern im Frühling gezeigt, wenn es hier wächst und blüht. Als die Enkelkinder klein waren, hat sie sie mitgenommen in den Garten. Heute sind sie nicht mehr interessiert, erzählt sie.

Olga hätte uns ihren Garten gern im Frühling gezeigt, wenn es hier wächst und blüht
Christoph Wider/Forum
Auch die Kinder von Christian haben das Interesse am Garten verloren. Dabei wollten sie ihn unbedingt. Damals waren sie acht und sechs Jahre alt. Nach drei Jahren auf der Warteliste wurde ihr Wunsch erfüllt. Das ist vier Jahre her und in der Zwischenzeit ist der Garten den Eltern ans Herz gewachsen. Die Bananenstaude hat Christians Frau gepflanzt. Wenn sie im Garten kocht, verwendet sie die grossen starken Blätter als Teller, so wie sie es aus ihrer Heimat Sri Lanka kennt. Die Staude packt Christian gegen die Kälte mit Laub ein. Zucchetti hat es dieses Jahr so viele gegeben, dass er sie einfrieren konnte, eigene Kartoffeln haben sie noch vorrätig und im Moment essen sie gerade die letzten Tomaten. Die sind Christians Lieblingsgemüse. Er kennt keinen Laden, der Tomaten verkauft, die so schmecken wie seine eigenen. Christian schätzt die Hilfsbereitschaft seiner Nachbarinnen und Nachbarn: Als sie in den Ferien waren, hat der Wind das Tomatenhäuschen weggefegt. Die Nachbarn haben es einfach wieder aufgebaut.
Um 13.30 Uhr zeigt sich das Alpenpanorama. Nur noch wenige Schleierwolken erinnern an die dramatische Wetterlage am Morgen. Das freundliche Wetter weckt den Tatendrang. Nicht so bei Annette. Sie verbringt gern Zeit im Garten, auch ohne etwas zu tun. Im Pullover sitzt sie in der Sonne vor ihrem Häuschen. Für sie ist der Garten ein Erholungsort. Ein Ort für die Seele, wo sie gut herunterfahren kann. Wenn sie zu Hause ungeduldig und genervt ist, dann kommt sie hierher und buddelt. Nach zwei Stunden ist sie wieder geerdet. Diese Arbeit ist für sie Burnout-Prophylaxe. Sie lacht, als sie das sagt, meint es aber ernst. Als Pflegefachfrau im Waidspital weiss sie, wovon sie spricht. Besonders am Anfang der Corona-Zeit, als die Arbeit in der Pflege sehr belastend war, war der Garten für Annette ein perfekter Rückzugsort. Heute hat sie Spätdienst. Bevor sie beginnt, sitzt sie hier eine Stunde in der Sonne und geniesst die Ruhe.

Annette verbringt gern Zeit im Garten, auch ohne etwas zu tun.
Christoph Wider/Forum
Vor etwa 10 Jahren haben Annette und ihre Freundin Stephie den Garten bekommen. Am Anfang hatten sie keine Ahnung von Gärtnern, aber den Wunsch, den Flecken Erde im Geist von ihrem Vorgänger Walter weiterzuführen. Der 86-jährige Bio-Gärtner hatte sich leidenschaftlich um den Garten gekümmert. Alles haben sie von ihm übernommen, sogar seine Wanderschuhe waren noch im Gartenhäuschen. Am Anfang haben sie herausgerissen, was sie hätten stehen lassen sollen und stehen lassen, was sie hätten ausreissen sollen.
Am liebsten pflanzt Annette Gemüse an, das sie noch nicht kennt. Da sie eine Heilpflanzenausbildung hat, wachsen auch einige Heilkräuter in ihrem Garten: Mönchspfeffer, Malve, Kamille. Aus den Heilkräutern macht sie Tinkturen oder Tees, mit denen sie ihre Freunde und Bekannten beschenkt. Manchmal fragt sie sich, wie lange das mit den Gärten noch geht angesichts der Wohnungsnot in Zürich. Die Geschichte zeigt, dass viele Gärten Schulhäusern, Spitälern, Friedhöfen oder dem Wohnungsbau weichen mussten.
Auch dem Bau der Swiss Life Arena sind Gärten zum Opfer gefallen. Einen davon hat August während 45 Jahren gepflegt. Und das, obwohl er gar nicht gerne Gemüse isst. August ist seit 27 Jahren pensioniert. Vor 24 Jahren hatte er zwei Herzinfarkte und kurz darauf ist seine Frau gestorben. Zum Glück hat er seine Freundin, in deren Garten er sich nützlich machen kann. Mit ihr hat er früher Velotouren gemacht. Ausfahrten zum Greifensee, Türlersee, sogar bis zum Bodensee. Mit Blick über den Zürichsee lässt er seine Gedanken noch ein bisschen kreisen. Seit einem Jahr ist seine Freundin im Altersheim, wo er nachher noch auf einen Besuch hin will. Heute lockert er die Erde in den Beeten, die schon alle abgeräumt sind, und er recht Laub zusammen. Der Garten gehört heute dem Sohn seiner Freundin, mit ihm klopft er manchmal einen Jass im Garten.

Mit Blick über den Zürichsee lässt August seine Gedanken noch ein bisschen kreisen.
Christoph Wider/Forum
Marcel sitzt unter dem Dach seines Schwarzwälder Isele-Hauses, übrigens das erste dieser Art auf dem Areal. Unterdessen ist das rustikale Holz-Häuschen in guter Gesellschaft. Der grosse Mann sitzt am Tisch, hört Radio und raucht eine Zigarette. Die Liebe zum Garten verdankt er seiner Grossmutter. Marcel erinnert sich, wie er ihr als Kind im Garten geholfen hat und wie später seine zwei Töchter in seinem Garten gespielt haben. Schön waren die Zeiten, als die Familie des Bruders, die Eltern und Schwiegereltern hierhin zu Besuch kamen. Dann gab es Grill und Rambazamba. Und für die Kinder einen Sandkasten.
Heute kommt nicht mehr viel Besuch. Die Eltern und Schwiegereltern sind gestorben. Auf seine Pension und viel Zeit im Garten hat er sich gefreut. Wenn er im Garten ist, ist er ein anderer Mensch. Hier kann Marcel auftanken. Ein paar Jahre will er den Garten noch behalten. Weitherum bekannt ist er für die schönsten und üppigsten Tomatenstauden. Sein Trick: die richtige Sorte. Wer einmal Schoggitomaten gegessen hat, will nie mehr eine andere Tomate essen, meint er. Zehn Pflanzen setzt er in sein
Tomatenhaus, dazwischen tiefe Plastiktöpfe mit Löchern, in die er das Wasser giesst. Um zum Wasser zu kommen, müssen die Stauden ihre Wurzeln in die Tiefe strecken. Das mache die eigentlich flachwurzlige Tomate robuster.
Bei Marcel im Haus hat es immer ein kühles Getränk. Durch eine Luke im Boden gelangt er zu seinem Kompressor-Kühlschrank, den er mit Solarzellen auf dem Dach mit Strom versorgt. Solche technischen Installationen macht er fast lieber als jäten. Als gelernter Automechaniker und Betriebselektriker ist das sein Metier. Im Winter haben sie früher ab und zu ein Fondue im Häuschen gegessen oder nach einem verschneiten Waldspaziergang einen Kaffee-Lutz getrunken. Aber das war früher.
Um 15.44 Uhr beginnen die Dächer von Altstetten zu glitzern. Das Sonnenlicht fällt immer flacher ein, wird goldgelb und kraftlos. Der Schatten kriecht weiter über die Häuser und breitet sich über die ganze Stadt aus, bevor die Nacht sie zudeckt. Je näher die Sonne dem Horizont kommt, desto grösser und feuriger wird sie, bis sie so blass ist, dass man ihr noch einmal ins Gesicht sehen kann. Ein rosa Schleier legt sich über die Alpenkette, bis auch den höchsten Gipfeln das Licht ausgeht.

Christoph Wider/Forum