Angela Merici lebt in einer Zeit voller Widersprüche: Die Renaissance erfindet Kunst und Musik neu, viele Werke dieser Epoche bedeuten eine Zeitenwende. Mit dem Humanismus kommt eine Weltanschauung auf, die die Gestaltungskraft des Menschen und seine Verantwortung für die Welt betont. Nur die Kirche findet trotz mehrerer Konzilien nicht aus ihrer fast zwei Jahrhunderte andauernden institutionellen und moralischen Krise heraus. Sie hat viel Glaubwürdigkeit eingebüsst und ist so mit sich selbst beschäftigt, dass sie den vielen Menschen in bitterer Armut oder seelischer Not kaum Halt und Hilfe bietet.
Der jungen Angela ist Not fremd. Wenn ihr Vater Legenden der Heiligen vorliest, hört sie von mutigen Märtyrinnen und frommen Bischöfen. Auch Nikolaus von Flüe hat es ihr angetan. In ihrer Heimatstadt am Südufer des Gardasees wird erzählt, er lebe als Eremit und halte strenges Fasten. Beinah übertrieben versucht sie mit Fasten und Kasteiung, es ihren Vorbildern gleichzutun.
Nach dem frühen Tod der Eltern und ihrer Schwester nimmt sie ihr Onkel auf. Dort, in Salò, tritt sie den Franziskaner-Tertiarinnen bei: Deren Lebensweise bringt ihr die Freiheit, ein selbstbestimmtes, religiös ausgerichtetes Leben zu führen. Sie kann regelmässig die Kommunion empfangen. Als Tertiarin muss sie keine Nonne werden und in ein Kloster eintreten, und sie muss auch nicht heiraten. Zurückgekehrt in ihr Elternhaus lebt sie 20 Jahre lang bescheiden, fromm und zurückgezogen. Daraufhin geht sie nach Brescia, um eine verwitwete Tertiarin zu unterstützen. Etwas später wird sie bei einem jungen Kaufmann in bezahlter Arbeit den Haushalt führen und Mitglieder einer Bruderschaft, karitative «Aktivisten», kennenlernen. Auch wenn Angela dem Armutsideal folgt: Bedürftig ist sie nie. Ihr geht es um «die wahre Armut im Geiste. In ihr befreit der Mensch sein Herz von jeder Anhänglichkeit und Hoffnung auf erschaffene Dinge und auf sich selbst. In Gott hat er alle Güter. Ohne Gott weiss er sich ganz arm», wie sie später in ihrer Ordensregel festhalten wird. Obwohl sie ausser frommer Lektüre keine theologische Ausbildung besitzt, schätzen sie in Brescia immer mehr Menschen als mitfühlende Seelsorgerin und kluge, gebildete Ratgeberin.

Agata Marszałek
«Sie sollen unterwegs
die Augen niederschlagen
und ehrbar den Schleier tragen.»Angela Merici, 1470/1475–1540
Im Heiligen Jahr 1525 pilgert sie nach Rom. Ein Kämmerer, den sie von ihrer Pilgerfahrt nach Jerusalem ein Jahr zuvor kannte, verschafft ihr eine Audienz bei Clemens VII. Der Papst lädt sie ein, als Sozialarbeiterin zu bleiben. Sie lehnt ab: Ihre Berufung sieht sie in Brescia. Bereits als junge Frau glaubte sie sich als von Gott erwählt, dort eine Frauengemeinschaft zu gründen.
Sur Anzola, wie sie daheim gerufen wird, erhält nicht nur Anerkennung, sondern auch vielfältige Unterstützung. Dank dieser kann sie 1533 ein eigenes Oratorium einrichten. Dort trifft sie sich mit anderen Frauen regelmässig zum Gebet und leitet sie an, eigenständig ein religiöses Leben im Alltag zu führen. Am 25. November 1535 schreiben sich 28 Mitglieder aus unterschiedlichen Schichten offiziell in die neue «Compagnia» der heiligen Ursula ein. Ursula und ihre 11 000 Gefährtinnen sind ihnen ein Vorbild, galten sie doch als mutige, kämpferische Frauen, die im 4. Jahrhundert selbständig und unabhängig ihren Glauben bekannten und verteidigten, so wie es auch in diesen unsicheren Zeiten notwendig ist.
Eine Ordensregel gibt ihrer Gruppe einen rechtlichen Rahmen. Angela hat sie ihrem Sekretär diktiert, da sie zwar lesen und sogar Latein verstehen, aber nicht schreiben kann. Weil die Frauen nicht zusammen wohnen, unterscheidet sich ihre Regel von allen bisherigen. Angela erklärt darin, wie sich die Frauen verhalten sollten und welchen geistlichen Sinn die Versprechen Jungfräulichkeit, Armut und Gehorsam erfüllen. Und sie warnt: Überall sehen die «Schwestern» Verlockungen und Gefahren, weil sie mitten im Trubel der Stadt leben. Zum Schutz davor sind deshalb strenge Verhaltensweisen notwendig.
Für Angela bedeutet diese Strenge, mit der Christusnachfolge ernst zu machen. Wenn sie etwa vorschreibt, den Blick in der Öffentlichkeit gesenkt zu halten, meint sie: Lass dich nicht ablenken und mach dich nicht abhängig von Einflüssen der «armseligen Welt», bleib bei dir selbst, richte den Blick nach innen. «Nur dort», so schreibt sie, «erleuchtet Gott die Dunkelheit des Herzens». Die so erreichte Selbsterkenntnis ist die Grundlage für ein starkes Selbstbewusstsein als Christin. Angela schreibt nur religiöse Übungen vor, die helfen, im Inneren die Stimme des Heiligen Geistes zu hören.Andere Aktivitäten stellt sie den Schwestern frei.
Fünf Jahre später: Sur Anzola ist tot. Womöglich hat sie von den Frauen zu viel erwartet, keine hat ihre geistige Reife. Der noch jungen Gemeinschaft fehlt die «Mutter». Testamentarisch hatte sie noch verfügt, dass die Regel nach Bedarf und intensivem Gebet angepasst werden könne. Doch darüber entstehen Konflikte, und am Ende stehen mehrere Ursulagesellschaften nebeneinander. Einzig die Mädchenbildung als neues Ordensziel eint sie und verbindet sie mit dem Leben ihrer Gründerin: Katechese und Bildung bilden die Grundpfeiler eines emanzipierten und vom Glauben bestimmten Lebens.
Literatur zu Angela Merici steht in der Jesuitenbibliothek Zürich bereit.