Als der Historiker Gottfried Kurth zur Eröffnung des Belgischen Katholikentags in Mecheln am Morgen des 23. September 1909 mahnte, die Messfeier müsse endlich verständlich werden, erntete er minutenlangen Beifall von den zahlreich versammelten Menschen, aber auch von der Bischofstribüne. Die lateinische Sprache und die Art, wie die Messe gefeiert werde, seien Gründe für die «Kirchenflucht so vieler Christen». Als dann am Nachmittag der junge Benediktiner Lambert Beauduin über den Gottesdienst referierte und ebenfalls forderte, dass die Texte im Gottesdienst verstanden werden müssten, war in der katholischen Kirche eine liturgische Bewegung geboren: Es ging dabei nicht um Modernisierung, sondern darum, wie die Gläubigen zur aktiven Teilnahme an der Feier motiviert werden können. Eine Massnahme hierfür sollten Volksmessbücher sein, die die lateinischen Messtexte für die Gläubigen übersetzen. Schon Pius X. forderte dies 1903 kurz nach seiner Wahl zum Papst – zielte damit allerdings darauf ab, dass die Gläubigen wieder die lateinischen Gesänge mitsingen sollten.
Über die Benediktinerabtei Maria Laach erreichte die Bewegung bald zahlreiche Klöster und etliche Theologen in Deutschland, unter ihnen den jungen Romano Guardini. Kurz nach seiner Geburt in Verona zog seine Familie nach Deutschland, das, sehr zum Bedauern seines italienischen Vaters, Romanos Wahlheimat wurde. Das Chemiestudium brach er ab, ebenso das der Volkswirtschaftslehre. Als er einmal im Gespräch mit einem Jugendfreund in der Dachkammer seines Elternhauses auf den Bibelvers kam, wo es heisst: «Wer seine Seele hergibt, wird sie gewinnen» (Mt 10,39), stellte er sich die Frage, an wen die Seele denn zu
geben sei: an Gott? Eher nicht, denn «wenn der Mensch es nur mit Gott zu tun haben will, dann sagt er ‹Gott› und meint sich selbst». Die einzige Instanz, die ihm als angemessene Antwort plausibel schien, war: an die Kirche. Und er entschloss sich, Theologie zu studieren und Priester zu werden.

Agata Marszałek
«Die Kirche erwacht in den Seelen.»
Kirche bestand für Guardini allerdings nicht nur aus der Institution, sondern war auch eine zeitlose und umfassende Gemeinschaft, die nicht hergestellt werden muss und weit über den Kreis derer hinausgeht, die die Liturgie mitfeiern. Kirche ist «eine die Einzelnen übergreifende Wirklichkeit». Und das heisst, über sich selbst hinausdenken und sich als Teil in ein Ganzes fügen, auch zulasten des eigenen Ichs. Deshalb formulieren die Gebete der Messe gerade nicht: «Ich bete zu Dir, mein Gott», sondern: «Lasset uns beten».
Als junger Kaplan in Mainz litt er darunter, dass es unmöglich war, die Gemeinde «hineinzuziehen» in das, was in der Messe eigentlich geschieht: Er hoffte auf den Tag, an dem nicht nur der Ministrant auf sein «Dominus vobiscum» antwortet, sondern die ganze Gemeinde. «Zum Schlimmsten […] gehörte die Verpflichtung, […] jeden Tag vor ausgesetztem Allerheiligsten zu zelebrieren, während bei den Gläubigen der Rosenkranz gebetet wurde. Die Sinnlosigkeit dieses Vorgangs war unerträglich». Er bemühte sich, die Messe sorgfältig zu lesen – das dauerte manchen «zu lange», fand Guardini selbst.
Bald wurde ihm die Seelsorge für den katholischen Jugendverband Juventus zugewiesen, und, «ohne zu wissen, was Jugendbewegung ist», wuchs er ab 1920 in die katholische Jugendbewegung Quickborn hinein. Deren Mitglieder wollten «neue Menschen» werden, sie suchten die Erfahrung von Gemeinschaft in der Kultur, in der Natur oder in ausserchristlichen Ritualen, um dem Individualismus in der Gesellschaft entgegenzutreten. Im kirchlichen Leben sah es nicht anders aus: Im Gottesdienst beteten die Gläubigen je für sich, die Sakramente betrafen nur Gott und den Einzelnen, und jeder und jede erhoffte das Heil für sich selbst. Das Gefühl, «ein Volk» zu sein, konnte nicht aufkommen. Bei der katholischen Jugend konnte Guardini neue religiöse Praktiken prüfen und sogar die Messe auf Deutsch feiern, um allen eine aktive Teilnahme zu ermöglichen. Er setzte dabei nicht nur auf vordergründige Verständlichkeit, sondern erkannte in der Liturgie auch die Gelegenheit zur theologischen Bildung. Guardini gefiel das Bild von der Liturgie als dem «grossen Laienkatechimus» – eine Funktion, die dem Gottesdienst über Jahrhunderte zugefallen war.
Guardini hat seine Überlegungen immer weitergedacht oder versuchte, seine Gedanken in eine bessere Form zu bringen. Das gilt auch für die Liturgie: Sie ist nie ideal, denn sie bezieht immer die aktuelle Gestalt von Kirche und Welt mit ein. Sie richtet sich an konkrete Menschen und soll ihnen helfen, die Welt als Christen anzuschauen. Insofern ist der Gottesdienst auch politisch. Deshalb stand für Guardini fest: Die Liturgie hat eine soziale Dimension mit dem Ziel, ein «Gemeinschafts-Ich» als Teil am Leib Christi zu fördern. Wenn dies im Gottesdienst gelingt, erwacht die eigentliche und lebendige Kirche in den Seelen der Mitfeiernden.
Literatur von und zu Romano Guardini steht in der Jesuitenbibliothek Zürich, Hirschengraben 74, bereit.