Alois M. Haas

Kolumne

«Vision in Blau»

Er war einer der besten Kenner der Mystik des Mittelalters. Der begnadete Lehrer Alois M. Haas ist 90-jährig verstorben.

Am 12. Januar 2025 ist Alois M. Haas Arvio, emeritierter Professor für mittelalterliche deutsche Literatur an der Universität Zürich, verstorben. Er wurde am 23. Februar 1934 an der Neustadtgasse 6 hinter dem Grossmünster geboren. Der Drittgeborene verbrachte eine unbeschwerte Jugend, auch weil er sich früh den Pflichten in der väterlichen Backstube zu entziehen verstand. Alois wandte sich Büchern zu. Bildung wurde sein Privileg, das er auch durch vorpubertäre Schwererziehbarkeit durchsetzte. Seine Intelligenz bestach die Benediktiner in Engelberg, ihm Lesefutter zu geben. Sein reformierter Doktorvater Max Wehrli liess dem katholischen Habilitanden die Freiheit, sich in die noch nicht salonfähige Mystik zu vertiefen. Bei den Meistern im Hoch- und Spätmittelalter fand er seine geistige Heimat, dann auch ein Auskommen als Universitätsprofessor.

Diese Identität als Geistesarbeiter genoss er zeitlebens. Im Pflegeheim Birkenrain fand ich ihn vor seinem Buch «Mystik im Kontext» sitzen. Er las sich selbst – und staunte, wie er so etwas habe schreiben können. Bis zuletzt blieb er Dozent. Im Trauerbuch notierte eine Mitbewohnerin: «Lieber Alois, gern denke ich an den letzten Sommer zurück, als wir noch im Garten über dein letztes Buch gesprochen haben. Du hattest mir das Kapitel Seelenfunken auseinandergesetzt. Dein Lächeln dabei verriet schon, dass es keine schlüssige Erklärung gibt für die Existenz der Seele, und doch erleben wir ohne die Seele nichts.»

Professor Haas war stets empfänglich für Köstliches, ganz besonders Texte und Textilien. Wer je einen Blick in seine Bibliotheken werfen konnte, weiss das. Vielleicht stammte seine Expertise für das Exquisite aus einem italienischen Fürstenhaushalt der Renaissance. Professor Haas war ein Katalysator, weniger durch sein Wissen als durch seine Haltung: eine faszinierende Mischung aus actio und passio, von «Gottlieben und Gottleiden», wie eines seiner Bücher heisst. Einerseits handelte er, war aktiv und forschte mit allen Fasern seines Seins, andererseits lebte er das Hinnehmen, ganz besonders, was uns und die Wirkung seiner Haltung auf uns betraf. Er wehrte sich nicht gegen das, was er in uns bewirkte. Erweckungserwartungen und Erlösungshoffnungen wurden an ihn herangetragen, er hat sie angenommen, geduldet oder manchmal auch so getan, als wisse er von nichts.

Alois Haas wirkte durch seine Bereitschaft, am Brückenkopf ins Absolute zu stehen. Dort dachte er darüber nach, was die Meister über den Nicht-Ort ausserhalb der Zeit sagen, Meister aus Ost und West, Meister in Jesus Christus, Allah, Buddha, Shiva. Seine intellektuelle Neugier war stets vital (sowieso eines seiner Lieblingswörter). Auch die letzten Worte, die Alois mir hinterlassen hat, zeugen davon. Er lag im Bett, vor sich auf der Brust die Hände. Er hob sie hoch, beschaute die Fingerglieder, berührte sie zart und sagte fast unhörbar: «Blau». Nun muss man wissen, dass Blau nicht irgendeine Farbe ist, wie Alois in seinem wunderbaren Aufsatz «Vision in Blau» dargelegt hat, sondern ein Zeichen für das Absolute. Tatsächlich waren seine Finger bis zu den Mittelgliedern blau. Ich nahm seine eiskalten Hände, er liess es eine Weile geschehen und sagte dann: «Du häsch stinknormali Händ.»

Alois Maria Haas Arvio
* 23. Februar 1934, † 12. Januar 2025

Sohn eines Zürcher Bäckermeisters, Professor für Germanistik, leidenschaftlicher Mystik-Forscher.