Porträt von Karin Oertle im Stadtspital Zürich Waid .

Regionale Story

«Verbitterung ist schlimmer als jede Krankheit»

Wie die Spitalseelsorgerin Karin Oertle innerlich sehen gelernt hat.

Bevor sich Karin Oertle auf den Weg macht, Patientinnen und Patienten zu besuchen, schickt sie manchmal ein Stossgebet zum Himmel. Wohin sie zuerst gehen soll? Gar nicht so einfach, bei ungefähr 200 Betten auf 15 Stationen, die das Stadtspital Zürich Waid betreibt. «Damit hab ich manchmal ganz gute Treffer», erzählt sie und lächelt ihr gewitztes Lächeln. Sie ist gerne als Seelsorgerin hier. Sie hätte auch Psychologin werden können, denn dass andere «nicht in der Verbitterung stecken bleiben oder hineinrutschen», motiviert sie seit jeher sehr. Als Psychologin hätte sie aber ihren Glauben nicht einfliessen lassen können: «Es hat alles einen Sinn, auch wenn ich nicht sehe, welchen.»

Was die Theologin auch nicht sieht, sind Äusserlichkeiten. Denn ab dem Alter von zweieinhalb Jahren war bei ihr klar, dass sie blind ist. Was weder Klage noch Lamento bei ihr hervorzurufen scheint. Selbstbewusst erzählt sie eine Geschichte der Begegnungen: Wie ihr Vorbilder begegneten, die sie ermutigten. Wie sie im Umgang mit anderen spürte, was jeweils gefragt war. Die innere Verbindung zählt, und das, was mit den Augen sowieso für alle unsichtbar bleibt. Begegnet sie heute Menschen, dann geht das so: «Ich stelle mir die Leute nicht vor, welche Haarfarbe sie haben, ob sie dick oder dünn sind. Ich mache mir ein Bild davon, wie sie sind: eher ängstlich oder unternehmungslustig, temperamentvoll oder eher scheu.» Sie nimmt dabei auch wahr, ob Sympathie im Spiel ist, «an der Wärme, die mir entgegenkommt, oder an der Kälte, an Nähe und Distanz». Immer schneller und immer besser lerne sie, das einzuschätzen. «So geht es mir, glaube ich, auch mit Gott», fügt sie nahtlos an, «ich habe überhaupt kein Bild von ihm.» Was oder wer «er» dann für sie sei? «Vielleicht wie eine Mitte, wie eine zentrale Leitstelle, von der alles ausgeht?», fragt sie zurück.

Wer Karin Oertle auf den Gängen des Waidspitals trifft, könnte meinen, er sehe die innere «zentrale Leitstelle», von der sie sich führen lässt. Dass sie sich im Wirrwarr der Flure nicht verläuft, liegt aber auch an 31 Jahren Erfahrung, mit der sie sich hier als Seelsorgerin bewegt. Ihr Blindenstock scheint vor allem für eines da zu sein: Den Patientinnen und Patienten auf den allerersten Blick ein mitleidiges «Yesses nei!» zu entlocken – auf dass sie dann aus der Begegnung das Gefühl mitnehmen: Wenn sie es schafft, dann finde auch ich einen Weg.